Claus Möhlenkamp, Chief Executive Officer von Freudenberg Sealing Technologies (FST), spricht im Interview über die Ergebnisse der vergangenen Strategieperiode und wirft einen Blick voraus auf die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens in den kommenden Jahren.

Wie bewerten Sie die Strategieperiode, die 2023 zu Ende ging?
Im Wesentlichen haben wir alle gesetzten Ziele erreicht. Umsatz und Ergebnis lagen 2023 sogar über dem Ziel. Allerdings mussten wir beim Working Capital, also dem Umlaufvermögen, Abstriche machen. Da waren wir nicht gut, aber das hatte seinen Grund: Aufgrund der gestörten Lieferketten im vergangenen Jahr – vor allem beim Werkstoff FKM – haben wir uns hohe Bestände auf Lager gelegt. Wir haben damals gekauft, was wir kriegen konnten, wie viele andere Unternehmen auch. Durch diese Vorratslagerhaltung verfügen wir jetzt über hohe Bestände, die es abzubauen gilt. Deshalb stehen wir beim Working Capital nicht so glänzend da wie geplant. Davon abgesehen haben wir im Großen und Ganzen alle strategischen Ziele gut erreicht, trotz der schwierigen Rahmenbedingungen.
Warum war FKM so knapp?
FKM kommt in Batterien zum Einsatz. Plötzlich haben viele unterschiedliche Branchen diesen Rohstoff für Anwendungen der Elektromobilität aufgekauft. Der Markt war wie leergefegt. Viele Grundstoffe, die wir für die Polymerherstellung benötigen, brauchen nun auch die Batteriehersteller. Die Lage entspannt sich aktuell aber zusehends. Da die Subventionen für Elektrofahrzeuge auslaufen, werden weniger elektrisch betriebene Autos verkauft und der Gesamtmarkt kann sich wieder beruhigen und auf die neue Situation einstellen.
Die OECD sagt für 2024 voraus, dass die Wirtschaftsleistung nur noch 2,7 Prozent ansteigen wird. Welche Entwicklung erwarten Sie für FST?
(schmunzelt). Ehrlich gesagt lagen die Einschätzungen von Volkswirten, Wirtschaftsweisen oder Institutionen in den vergangenen Jahren immer daneben. Daher verlasse ich mich nicht mehr darauf. Viel spannender ist: Die USA haben kürzlich gemeldet, dass das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im dritten Quartal 2023 mit einer Jahresrate von 5,2 Prozent gestiegen ist – gegenüber plus 2,1 Prozent im zweiten Quartal. Mit diesem Wachstum hatte niemand gerechnet. Dieses Jahr dürfte sich dennoch für uns sehr schwierig gestalten. Die Straffung der Geldpolitik ist das A und O, aber diese hat ihre Wirkung noch gar nicht richtig entfaltet. Selbst wenn die Inflation weiter zurückgeht: Kredite verteuern sich, die Zinsen am Markt sind hoch. All das führt zu einer Beruhigung der Konjunktur. Ob die globale Wirtschaftsleistung nun um ein oder 2,87 Prozent steigt, ist für uns unerheblich. Wir müssen unser Augenmerk auf unsere spezifischen Märkte legen. Wir müssen China im Blick behalten, wie sich die Wirtschaft dort entwickelt. Immerhin ist das einer der größten Automärkte schlechthin. Wie geht es in den USA weiter? Steuert das Land in eine Rezession? Ich erwarte, dass in diesem Jahr in Nordamerika die Nachfrage zurückgehen wird, sie in Europa hingegen stabil bleibt. China ist momentan für uns das große Fragezeichen.
Wieso ist das so?
Die wirtschaftliche Entwicklung in China ist aktuell für uns schwer einschätzbar. Die Wirtschaft wächst zwar hier und dort, und in der Automobilbranche läuft es tatsächlich besser, als es manchmal den Anschein erweckt. Aber die Bauindustrie und die Segmente der allgemeinen Industrie, in denen wir agieren, sind in Schieflage geraten. Nehmen Sie den chinesischen Baumaschinenhersteller Sany als Beispiel, er rangiert an zweiter Stelle in den globalen Top 10 der Branche. Das Unternehmen verzeichnet aktuell massive wirtschaftliche Einbußen. Es wird nicht mehr gebaut, Investitionen in die Infrastruktur sind in China zum Erliegen gekommen. Unsere eigenen Umsätze sind seit Anfang 2023 in der allgemeinen Industrie in China um 40 Prozent gesunken. Ich fürchte, solange sich diese große Säule der Bauindustrie nicht wieder stabilisiert, wird es auch für uns dort weiterhin ziemlich trübe aussehen.
Kann Südostasien das ausgleichen?
Südostasien als neuer Markt wird kommen, aber das dauert. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es in den kommenden Jahren in vielen Weltmärkten schwieriger wird.
Mit welchen Mitteln steuern Sie gegen?
Für uns hat es sich immer als gut erwiesen, dass wir diszipliniert mit unseren Kosten haushalten, dass wir uns Kostenflexibilität bewahren.
Heißt das, wir werden wieder verstärkt Reise- und Sachkosten einsparen?
Auch das. Wir haben durch Corona gelernt, unsere Geschäfte auch remote zu führen. Wir werden nicht mehr so viel dienstlich reisen wie vor der Pandemie. Natürlich interagieren wir auch wieder persönlich von Angesicht zu Angesicht mit den Kunden, aber nicht im gleichen Umfang wie vor 2020. Wir haben eine gute Balance gefunden zwischen virtuellen und physischen Terminen. Wenn persönliche Treffen unerlässlich sind, reisen wir gezielter. Das ist eine effiziente Entwicklung – sowohl mit Blick auf die Kosten als auch in puncto Nachhaltigkeit. Wir müssen keine dezidierten Kostensenkungsprogramme fahren, sondern einfach diese gelebte Praxis fortsetzen. Auf keinen Fall dürfen wir unsere Budgets erhöhen. Wir planen zudem, unsere Vertriebs- und Verwaltungsgemeinkosten, die sogenannten SG&A-Kosten, zu senken; hierzu gehören auch die Bereiche Entwicklung, Lager und Logistik. Wir haben uns in einer Benchmark-Studie mit unseren direkten Wettbewerbern verglichen und liegen bei den Verwaltungskosten durchschnittlich etwa vier Prozentpunkte höher als die Konkurrenz. Wir müssen uns daher die Frage stellen, warum das so ist. Das hat etwas mit den Strukturen zu tun, mit Effizienz und vielen weiteren Aspekten. Dort wollen wir ansetzen. In den vergangenen Jahren waren wir mit Lean-Programmen in der Produktion aktiv und haben diese wettbewerbsfähig gemacht. Das muss uns nun auch in administrativen Bereichen gelingen.
Es geht also primär um Effizienz?
Effizienz ist überhaupt das Zauberwort, nicht nur im SG&A-Bereich. Unsere Prozesse müssen besser werden – digitaler, moderner. Dinge, die wir über Jahrzehnte mitgeschleppt haben, weil wir sie uns leisten konnten, können wir uns eben in Zukunft nicht mehr leisten. Es gilt, alte Zöpfe abzuschneiden. Wir sprechen hier nicht von einer akuten Situation – es geht vielmehr darum, die Transformation, die uns über viele Jahre begleiten wird, mit einem neuen, starken Produktportfolio zu untermauern. Wenn das heutige Automobilprogramm rund um den Verbrennungsmotor ausläuft, müssen wir mit neuen Produkten wettbewerbsfähig sein – nicht nur in der Produktion, sondern auch in allen unterstützenden Funktionen.
Was heißt das für die Menschen bei FST?
Wir müssen in indirekten Bereichen, in denen Mitarbeitende beispielsweise durch Verrentung oder aus anderen Gründen ausscheiden, prüfen, ob die Funktionen zwingend nachzubesetzen sind. Wir müssen mit Blick auf unsere Prozesse analysieren, wie wir Beschäftigten, deren heutige Funktion sich aufgrund angepasster Strukturen künftig verändert oder nicht mehr bestehen wird, gute Optionen und alternative Aufgaben bieten können.
Bundeskanzler Olaf Scholz hob anlässlich seines Besuchs bei Freudenberg im Herbst 2023 die Bedeutung von Forschung und Entwicklung hervor. Welche Investitionen plant FST?
Wir sind über viele verschiedene Segmente hinweg sehr breit aufgestellt. Manche davon sind von der Transformation betroffen, manche bleiben stabil, manche haben sehr langfristige Entwicklungszyklen. Etwa vier Prozent unseres Umsatzes investieren wir kontinuierlich in Forschung und Entwicklung. Wir befinden uns in einer schnelllebigen Zeit, in der viele Transformationen anstehen. Der Energiesektor richtet sich völlig neu aus, der Automobilsektor befindet sich im Umbruch, Künstliche Intelligenz (KI) wird immer präsenter. Wenn seitens des Markts oder der Kunden die Anforderungen bestehen, mehr zu tun, dann machen wir das auch. Bei einem Großprojekt wie der Entwicklung und Fertigung von Cell Caps, einem der vier Inkubatoren, an denen wir kräftig arbeiten, werden wir zweistellige Millionenbeträge zusätzlich investieren – wenn der entsprechende Auftrag dahintersteht. Glücklicherweise besitzen wir die finanzielle Flexibilität dafür.
Wie finanzieren wir Summen in dieser Größenordnung?
Wir haben in den vergangenen Jahren eine große Finanzierungskraft entwickelt, das heißt, wir können das von innen heraus stemmen. Und zwar aus dem Ergebnis unserer Geschäftstätigkeit, aus dem Cashflow heraus. Wir verfügen über viel Handlungsspielraum, den wir auch benötigen. Diesen gewährt uns die Muttergesellschaft. Allerdings stehen wir vor der Herausforderung, ein über Jahrzehnte angestammtes Kerngeschäft ersetzen zu müssen. Denken Sie nur an den Simmerring® im Motor. Wenn wir nun völlig neue, völlig andere Produkte entwickeln und fertigen, muss uns klar sein, dass wir zunächst in die Grundlagen investieren müssen, zum Beispiel in neuartige Fertigungstechnologien. Wenn dem Ganzen langfristiges Geschäft gegenübersteht, spricht überhaupt nichts dagegen. Das können wir uns leisten. Da wir an mehr als einem Inkubator arbeiten, kann auch ein zweites oder drittes Großprojekt in der Form auf uns zukommen.
Aus dem Projekt Ovid gingen die von Ihnen bereits genannten Inkubatoren hervor, die Innovationen bis zur Marktreife begleiten. Wie weit ist FST auf diesem Weg?
Wir hatten uns zunächst auf vier Inkubatoren konzentriert: Die bereits erwähnten Cell Caps für Batterien, Thermal Barriers, Busbars und Produkte für Radarsysteme beim autonomen Fahren. Wenn ich nach der Umsetzungsreife gehe, sind wir mit den Thermal Barriers am weitesten. Hiervon gibt es schon Produkte in Serie, das Geschäft läuft gut. Nun gilt es, dieses weiter auszubauen. Somit war der erste Inkubator erfolgreich und wird demnächst in ein Lead Center überführt. Von der Umsetzungsreife her sind die Cell Caps auch schon sehr weit. Hier gibt es zwar noch keinen offiziellen Serienauftrag, aber wir haben bereits große Vorserienaufträge (ACC) über 30.000 Stück erhalten. Wenn unsere Innovation hält, was wir uns davon versprechen, kriegen wir sicher auch den dazugehörigen Serienauftrag. Die Entscheidung darüber steht unmittelbar bevor. Und zwar in einer Größenordnung von zunächst 120 Millionen Euro. Sobald das klar ist, müssen wir die vorhin angesprochenen Zusatzinvestitionen tätigen.

Worauf müssen wir dabei achten?
Wichtig ist, dass wir uns fokussieren, wir können nicht alles auf einmal machen. Die Inkubatoren repräsentieren für uns völlig neue Themen. Das heißt, wir müssen den Markt ganz neu bearbeiten, Erfolgsfaktoren herausarbeiten und letztlich alles industrialisieren. Das erfordert eine Menge Kraft.
Wo werden wir die Cell Caps fertigen?
Wir produzieren sie in Italien, in Pinerolo. Dort haben wir bereits eine Prototypenanlage installiert. Diese ist zwar noch nicht vollautomatisiert, aber wir sind schon weit. Unser Team in Italien hat einen fantastischen Job gemacht. Im Dezember waren unsere Kunden vor Ort. Im Audit haben wir nicht nur ein ausgezeichnetes Feedback erhalten, sondern auch ein Top-Rating.
Wo stehen wir beim Inkubator Busbars?
Bei den Busbars sind wir noch nicht ganz so weit. Aber auch hier gibt es erste Prototypen. Das Geschäft ist etwas kleinteiliger und wird sich auf eine breitere Kundenbasis verteilen. Aber auch hier läuft alles nach Plan.
Und wie weit sind wir bei Produkten für Wave Guide Antennas, also Radarsysteme?
Diese Produkte unterstützen beim autonomen Fahren. Allerdings wird das Projekt erst in vier bis fünf Jahren spruchreif, auch wenn wir bereits erste Prototypen geliefert haben. Was uns ganz besonders stolz macht: Es gibt nicht nur Prototypenaufträge, sondern ein Kunde hat auch eine Entwicklungskostenbeteiligung in Millionenhöhe unterzeichnet. Das ist ein mehr als deutliches Zeugnis, dass echtes Interesse besteht.
Die Initiativen zur CO2-Reduktion haben das Marktwachstum der Wasserstoff-Technologie enorm beschleunigt. Mit welchen Produkten reagiert FST darauf?
In diesem Segment sind wir seit 20 Jahren auf Komponentenbasis aktiv, zum Beispiel bei Brennstoffzellenstacks. Wir fertigen Dichtungen für Gasdiffusionslagen, spritzen Gaskets auf Polyethylennaphtalat-PEN-Folie – das ist ein transparenter Film – oder Gaskets auf Frames, also auf hauchdünne, transparente Plastikträger für Bipolarplatten. Zusätzlich gibt es Dichtungen für Hydrolyseure. Diese sind großformatiger und wir sind damit seit geraumer Zeit sehr aktiv und erfolgreich.
Also nichts Neues im Augenblick?
Doch, sogar eine Menge. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, wie das gesamte H2-Ecosystem von Wasserstoff aussehen wird. Damit ist das Wertschöpfungssystem Wasserstoff gemeint, von der Erzeugung – über Hydrolyseure – bis hin zur Anwendung, zum Beispiel im Stack für Brennstoffzellen. Aber was passiert dazwischen? Wasserstoff muss gelagert, transportiert, umgeformt, auf 700 Bar verdichtet werden. Insofern sehen wir eine ganze Menge Prozessschritte. Als wir diese näher analysiert haben, wurde uns klar, dass in diesem System ein riesiges Potenzial für uns steckt.
Entwickeln wir dafür neue Produkte?
Für uns geht es eigentlich eher um klassische Komponenten wie beispielsweise hydraulische Dichtungen für Pumpen, Kompressoren, Distributoren. Wir haben für FST ein Potenzial in Höhe von 4,5 Milliarden Euro errechnet, wobei 3 Milliarden davon auf die Verbindung zur Bipolarplatte entfallen, die wir nicht selbst herstellen und auch nicht machen wollen. Aber auch wenn wir diesen Teil rausrechnen, sprechen wir von zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro für unser klassisches Dichtungsgeschäft. Das ist eine gigantische Summe. Durch das Ausgliedern der Batterie- und Brennstoffzelle in die Freudenberg e-Power Systems ist für uns einiges an Potenzial abgewandert, aber noch immer ist unglaublich viel auf der Komponentenebene vorhanden.
Welche Rolle spielt zukünftig China für FST?
China ist und bleibt sehr bedeutend für uns. Nicht nur für unsere international agierenden, sondern vor allem auch für die lokalen chinesischen Kunden. Wo wir als FST etwas verändern werden: Wir stärken unsere Organisation vor Ort in China, wir möchten sie unabhängiger machen. Das heißt: weniger abhängig von FST, aber auch weniger abhängig von unserem Joint-Venture-Partner NOK. Es ist wichtig, dass sich die chinesischen Einheiten stärker auf lokale Kunden fokussieren, aber zugleich auch eine eigene lokale Entwicklung aufbauen. So gesehen ist das ein Ausbau der Kompetenzen: China für China, local for local.
Das bedeutet: Wir stärken unsere Präsenz im chinesischen Markt. Gleichzeitig balancieren wir unsere Geschäftsaktivitäten in Asien stärker aus, indem wir uns auch in anderen Schwerpunktregionen weiterentwickeln, beispielsweise in einigen Ländern Südostasiens. Wir erarbeiten uns zusätzliche Märkte, ohne dafür vorhandene aus den Augen zu verlieren oder uns gar zurückzuziehen. Auch hier sehen wir es als unsere Aufgabe an, die Stärken vor Ort zu entwickeln, anstatt wie früher Expats, Kompetenzen oder Produkte zu exportieren.
Chief Financial Officer (CFO) Ludger Neuwinger-Heimes wird nach knapp 40 Jahren bei Freudenberg in den Ruhestand gehen. Wie hat er FST geprägt?
Zunächst einmal hat Ludger Neuwinger-Heimes sehr viele Akzente in vielen Geschäftsgruppen bei Freudenberg gesetzt. Er war nicht von Anfang an bei FST, sondern beispielsweise auch bei Freudenberg Home & Cleaning Solutions. Aber er hat vor allem FST über einen langen Zeitraum kontinuierlich als Geschäftsführer mitgeprägt. Er war und ist ein hervorragender CFO. Unaufgeregt, sachlich, faktenorientiert. Er hat die Geschäfte solide geführt, hat uns sicher durch Krisen navigiert. Denken Sie an 2009, als die Finanzkrise die Welt ordentlich durchgeschüttelt hat. Gemeinsam sind wir durch die Zeit der Pandemie gegangen. Heute stehen wir mit hervorragenden Geschäftszahlen da. SAIL war eines seiner Leuchtturmprojekte, ein riesiges Transformationsprojekt: Als wir 2007 damit begannen, hatten wir acht unterschiedliche ERP-Systeme im Einsatz. Heute arbeiten wir weltweit mit einem einzigen. Ich kann nur sagen: Chapeau, tolle Leistung!